Paul Kothes ist Zenmeister und Unternehmer. Im Interview reflektiert er die Illusion des Selbst, Zen in der heutigen Arbeitswelt und warum es kein Google Maps zur Erleuchtung gibt.
Lieber Paul Kothes,, Sie beschreiben sich als “Pfadfinder, Unternehmer, Zen-Lehrer, Autor, Coach, Sucher”. Dem Zen selbst schreiben Sie eine inspirierende Widersprüchlichkeit zu. Inwiefern empfinden Sie die verschiedenen Aspekte Ihrer Persönlichkeit als widersprüchlich oder miteinander vereinbar?
Eine interessante Frage. Wir alle suchen gerne nach einem roten Faden, nach einem stimmigen Konzept in unserem Leben. So wie man das in einem Bewerbungsschreiben versucht, darzustellen.
Aber..?
Aber das ist nur eine nette Illusion. Unser Ego-Spiel, um die Unberechenbarkeit des Seins zu überbrücken. Meiner Erfahrung nach ist jedes Leben in einem extrem hohen Maße determiniert. Das hören wir nicht gerne, weil wir das Ideal des freien und selbstbestimmten Menschen vor uns hertragen.
Das stimmt. Inwiefern sind wir denn Ihrer Ansicht nach "vorprogrammiert"?
Nüchtern betrachtet in einem erstaunlichen - für manche: erschreckenden -Maße. Durch die Evolution, durch unsere Vorfahren, und damit durch die Zeit, in die wir hineingeraten, ohne sie auswählen zu können. Dieser Determinismus ist natürlich für jedes Ego eine Schmach. Also versucht das Ego, ein ganz persönliches Narrativ zu erschaffen, in der es als autonome Person wieder im Mittelpunkt steht. Die eingangs gestellte Frage nach meiner Persönlichkeit entpuppt sich damit als Falle, in die das Ego liebend gerne hineintappt, weil sich hier die Gelegenheit bietet, das eigene Narrativ genüsslich auszugestalten. Wenn das aber so ist, dass wir in unserem äußeren Leben relativ wenig Spielraum haben, dann hat das zwei Konsequenzen.
Welche sind das?
Erstens: die ersehnte Freiheit findet sich nicht im Äußeren - sondern, wenn überhaupt, nur im Inneren. Zweitens, das Rezept für das Äußere heißt „Go with the Flow“ – nicht kämpfen, sondern sich anpassen. Das Wort Spiel-Raum macht das deutlich. Es gibt keine verlässliche Logik für den „Erfolg“ im Äußeren – auch wenn eine amerikanisch geprägte „Winner-Mentalität“ seit Jahrzehnten versucht, uns das zu suggerieren.
Und das heißt dann in Bezug auf Sie selbst und die Vereinbarkeit Ihrer verschiedenen vermeintlichen Persönlichkeitsanteile?
Mein Leben ist ein Sandkasten, ein Spiel-Raum. Das ergibt den gemeinsamen Nenner für die sehr unterschiedlichen Funktionen und Positionen in meinem Leben. Das ist der biografische, der äußere Blick. Und dann gibt es noch die innere, die transzendente Perspektive. Nur hier ist es möglich, einen Sinn für mich als Individuum in diesem weitgehend vorprogrammierten Äußeren zu entdecken. Diese Erkenntnis ist keine geniale Idee von mir, sondern Teil der Menschheitsgeschichte, die bekanntlich mit der Entdeckung des Bewusstseins beginnt. Die Erfindung von Religionen und spirituellen Wegen, wie die Meditation, belegen die Wichtigkeit eines Brückenschlages zwischen dem Äußeren und dem Inneren. Und so bekommt schließlich die „wilde Mischung“ meines Lebens doch noch einen roten Faden: die Meditation.
Gutes Stichwort. Sie haben über 30 Jahre Zen-Erfahrung. Ihre ersten Erlebnisse mit Zazen, der Sitz-Meditation im Zen Buddhismus, unter anderem in japanischen Zen-Klöstern, waren allerdings nicht gerade ermutigend.
Zen ist berühmt dafür, eigene Illusionen aufzudecken. Aber wenn das dann so ist, dann ist das nicht nur befreiend, sondern meistens vor allem schockierend. Meine Idee, das authentische Zen in Japan in einem realen Kloster zu erfahren, ist dafür ein gutes Beispiel. Vor einigen Jahren ergab sich die Gelegenheit, mit einer kleinen Gruppe erfahrener Meditierender verschiedene Zen-Tempel und Klöster in Japan zu besuchen und auch beim Zazen, der Sitz-Meditation mit dabei zu sein. Alles war extrem ritualisiert und formell. Beim Sitzen in der Meditationshalle ging ein erfahrener Schüler umher, um dich mit dem Keisaku, einem lattenähnlichen Stock auf den oberen Rücken zu schlagen, wenn du auch nur einen Hauch unaufgerichtet herum saßt.
Auf den Rücken zu schlagen?!
Einerseits war das ein durchaus hilfreicher und belebender Schock, andererseits war es eine unglaubliche Übergriffigkeit, die aus einer längst vergangenen Welt zu kommen schien. Hier stand nicht der Zen-Schüler als Mensch im Mittelpunkt, sondern die Tradition, das Prinzip. Es war außerordentlich beeindruckend, in eine solche mittelalterliche Welt der Zen-Tradition eintauchen zu können - und gleichzeitig völlig desillusionierend, dabei die Essenz des Zen finden zu können. Also musste ich diese woanders suchen, nämlich bei mir selbst.
Verstehe. Sie sind also trotz oder vielleicht auch gerade dank dieser Erfahrungen Ihren Weg der Meditation weitergegangen.
Meditation im Allgemeinen, und das Zen im Besonderen, können uns helfen unsere „wahre Natur“ zu entdecken. Das unterstellt, dass wir normalerweise nicht in unserer wahren Natur leben, sondern in einer Welt voller Illusionen und Selbsttäuschungen. Bildlich gesprochen leben wir wie ein Fisch in einem kleinen Aquarium, der meint, das sei das Meer. So ähnlich etablieren wir uns in unserem ganz persönlichen Aquarium, das wir unser Leben nennen. Meditation ist also der permanente Versuch, unsere Begrenztheit zu überwinden – was heißt, das „Große Ganze“, den Sinn des Lebens zu entdecken. Meiner Erfahrung nach ist das nicht eine Sache für eine einmalige Erleuchtung – und dann ist es gut. Es geht um eine lebenslange Entdeckungsreise.
Und wie gestaltet man diese optimalerweise?
Ob ich dafür morgens und abends artig meditiere, sollte jeder/jede für sich ausprobieren. Es gibt kein Google Maps zur Erleuchtung. Der Antrieb für die eigene Meditationspraxis sollte jedoch nicht irgendein Pflichtprogramm sein, sondern der dringende Wunsch, „es“ zu entdecken.
Wie hat Zen-Meditation Ihr Leben verändert, sowohl persönlich als auch beruflich?
Zu dieser Frage könnte ich endlose Spekulationen entwickeln:„Was wäre wenn?“ Allerdings: Ich habe keine Ahnung, wie mein Leben verlaufen wäre ohne Zen-Meditation. Und ich finde es auch nicht besonders spannend, darüber zu grübeln. Kein Zweifel, die Zen-Erfahrung hat mich sehr geprägt. Was das meint, kann man in meinen Aktivitäten und Publikationen ablesen. Die zentrale Erfahrung ist für mich die der Verbundenheit. Die wiederum motiviert mich, Erfahrungen und Erkenntnisse zu teilen.
Zum Unternehmer in Ihnen: Sie haben nicht nur die überaus erfolgreiche Kommunikationsagentur KohtesKlewes (heute Ketchum) gegründet, sondern auch die Identity Foundation, eine gemeinnützige Stiftung für Meditation und Wissenschaft. Heute coachen Sie Führungskräfte und schreiben Bücher zu Erfolg und Spiritualität. Wie hat sich das Konzept von Arbeit und vor allem Führung in den letzten Jahren verändert - und wie passen Zen bzw. Meditation in dieses neue Verständnis?
Historisch betrachtet war der Einfluss von Zen und anderen Meditationsformen auf Führung und Führungskräfte enorm. Es hat sich ein völlig neues Selbstverständnis entwickelt, das die bisherige hierarchisch-autoritäre Managementform radikal infrage gestellt hat. Die Erkenntnis, dass ein konstruktives Miteinander nicht von außen zu „machen“ ist, sondern voraussetzt, dass man innerlich mit sich selbst okay ist, ist ziemlich neu. Es ist erkennbar, dass wir in einer Transformations-Periode sind, in der die alten Formen des Managements sich zwar sehr langsam, aber sichtbar wandeln. Für eine solche Zeit des Wandels sind Rückschläge typisch. Das können wir leicht am Beispiel des Humanismus sehen, der sich trotz schrecklichem Un-Humanismus seit Jahrhunderten entwickelt.
Wie sehen Sie denn insgesamt auf unsere heutige Wirtschafts- und Arbeitswelt?
Das ist eine interessante Entwicklung. Offensichtlich geraten immer mehr Menschen in eine - überspitzt formuliert - Gewerkschafts-Haltung: möglichst viel Geld für möglichst wenig Arbeit. Dabei wird unterstellt, dass Arbeit nur ein notwendiges Übel im Leben ist. Über viele Jahrhunderte war es das sicherlich auch. Das Ideal ist allerdings nicht, gar nicht zu arbeiten - sondern eine sinnvolle und motivierende Arbeit ausüben zu können. Das ist in der realen Arbeitswelt natürlich nicht immer einfach, aber möglich.
Wie denn?
Der berühmte Film von Wim Wenders über den Toiletten-Mann in Tokio ist dafür eine wunderbare Parabel, wie man in jedem Job das Glück entdecken kann. Dafür braucht es allerdings eine positive Grundhaltung, in der die eigene Zuständigkeit für das Glück bejaht wird. Menschen, die meditieren, sind nachgewiesenermaßen psychisch stabiler und blicken mehr konstruktiv in ihr Leben als andere. Klar, von so einem Ideal sind wir noch Lichtjahre entfernt. Aber dass Meditation und Achtsamkeit in der Arbeitswelt inzwischen einen akzeptierten Stellenwert hat, ist doch schon mal ein guter Anfang.
Und welche Veränderungen würden Sie sich wünschen?
Oh je. Auf diese Frage könnte ich einen langen Wunschzettel präsentieren. Den zu lesen wäre vermutlich eher frustrierend. Meine Strategie ist eher, Veränderung zum „Guten“ für möglich zu halten. Alles, was wir über die Entwicklung von Universum und Erde wissen, belegt eine konstruktive Zielorientierung des Systems. Nur so ist die völlig unwahrscheinliche, aber dennoch reale Entwicklung des Wunders Erde möglich geworden. Allerdings ist das kein kontinuierlicher, paradiesischer Prozess, sondern ein von höchst gewaltsamen Entwicklungen geprägter Verlauf. Darin erkennen wir das Grundprinzip des Seins: die Dualität.
Das haben vor tausenden von Jahren schon chinesische Denker wie Laotse erkannt und es im Taoismus beschrieben. Alle Veränderungen leben von der Kraft der Dualität. Ohne Nacht kein Tag, ohne Zerstörung kein Aufbau, ohne Tod kein Leben. Ohne Nichts kein Alles. Alles im Universum ist diesem Prinzip untergeordnet – nur der Mensch ist in der Lage, eine vermittelnde, eine versöhnliche Position zwischen den beiden Extremen zu finden. Diese nennen wir Meditation. Das heißt modern gesagt, Meditation ist Veränderungs-Management: das kluge Ausbalancieren zwischen den Gegensätzen – zwischen Yin und Yang, wie das im Taoismus heißt.
Gibt es bestimmte Prinzipien des Zen, die Sie besonders wichtig finden, wenn es um die Führung von Teams geht?
Die Aufgabe von Teams ist es, kreative Lösungen zu finden, das nennen wir Team-Work. Und kreative Lösungen setzen voraus, dass wir uns von bisherigen Fixierungen befreien. Genau das ist Zen. Ich habe mal ein Buch über das „Nichts“ geschrieben, was schon unlogisch in sich ist. Der Charme von Zen ist die Nicht-Logik, die radikale Anti-Fixierung. Dafür ist gedanklicher Mut erforderlich. Gute Teams schaffen den Spagat zwischen Gemeinsamkeit und Einzigartigkeit. Zen ist immer ein Training in Loslassen. Eine interessante Entdeckung dabei ist: Loslassen bedeutet auch Freiheit.
Sie sind auch Stimme von 7mind, der meistgenutzten Meditations-App im deutschsprachigen Raum. Wie passen denn Smartphone-Nutzung und Achtsamkeit zusammen?
Erstaunlich gut. Natürlich war ich anfangs auch sehr skeptisch, ob eine App nicht zu banal ist für eine so wunderbare Kostbarkeit wie Meditation …
Aber?
Zum Glück war die Neugierde, es auszuprobieren, größer. Und wenn ich heute die Reviews in den App Stores lese, dann ist das - wenn es nicht gerade um technische Probleme geht - in den meisten Fällen so anrührend zu lesen, welche Bedeutung die Meditationen in der App für die User haben. Meister Eckhart, der große deutsche Mystiker, hat einmal gesagt: „Wenn wir nicht diejenigen lehren, die es nicht wissen, wen sollte man dann lehren?“
Der Workshop, den Sie auf dem Pura Vida 2025 leiten werden, heißt “Vom Charme des Nichts”. Für die meisten Menschen ist die Vorstellung eines “Nichts” wohl eher beängstigend. Inwiefern kann “Nichts” charmant sein?
Was ist so beunruhigend am „Nichts“? Ich habe ein ganzes Buch darüber geschrieben. Am Anfang des Buches gibt es darin eine leere Seite. Gegenüber steht: Auf dieser Seite ist die Essenz des ganzen Buches enthalten.
Meiner Meinung nach hat das sogenannte Nichts zwei sehr charmante Aspekte: Der eine ist die Symbolik des völlig freien Neubeginns, Reset auf Butlers. Auf der anderen Seite ist in der Logik der Dualität das Nichts das Gegenteil von Allem.
Wieviel Vertrauen haben Sie derzeit, dass unsere Gesellschaften sich insgesamt in eine bewusstere, achtsamere und mitfühlend verbundenere Richtung bewegen? Und was können wir als Einzelne dafür tun?
Nichts. Als Bodhidarma, der vor vielen Jahrhunderten die Idee der Meditation von Indien nach China gebracht haben soll, vom damaligen chinesischen Kaiser gefragt wurde: „Was ist das Geheimnis deines Weges der Meditation?“ Soll er geantwortet haben: „Offene Weite, nichts von heilig.“
Es ist die Gratwanderung zwischen persönlichem Engagement und völligem Loslassen. Das muss jeder für sich selbst herausfinden.
Vielen herzlichen Dank für Ihre Antworten!